Beschreibung
Für Kafkas Proceß-Roman wird allgemein eine weitgehend
`einsinnige’, auf die subjektive Wahrnehmung des Helden
beschränkte Erzählperspektive anerkannt. Kaum aber werden
daraus Konsequenzen für die Interpretation gezogen. Denn was
in totaler Subjektivität erlebt und so auch erzählt wird,
kann nicht ungeprüft als tatsächliches Geschehen übernommen
werden. Diese Einsicht hat die Verfasserin veranlaßt, im
`Proceß´ nach Kriterien zu suchen, die es erlauben, das
erzählte Geschehen einer Realitätsprüfung zu unterziehen.
Erstaunliches kam dabei zu Tage, und nicht zuletzt die
Überraschung, daß Kafkas Text eine solche Überprüfung, ist
sie erst einmal in Gang gesetzt, kräftig unterstützt.
Aus kritischer Sicht entpuppt sich K.s Proceß als ein
paranoischer Krankheitsprozeß des Josef K., der sich vor
allem in Projektionen äußert. Der Berichterstatter dieses
Geschehens bleibt ungenannt. Gleich einem intimen Zeugen,
der alles mitgemacht hat, identifiziert er sich scheinbar
ganz mit K.s Nöten und versäumt doch nicht, durchblicken zu
lassen, daß nicht alles unbedingt so gewesen sein muß, wie
es den Anschein hat. Dieses versteckte Doppelspiel des
Erzählers mit K.s Schicksal und ein zusätzliches Spiel mit
dem unwissend gehaltenen Leser hält Franz Kafka in seinem
berühmten Roman bis zu K.s bitterem Ende virtuos aufrecht.
Nur mit der dauernden Selbstversicherung, daß es so, wie es
primär erzählt wird, nicht gewesen sei kann, vermag sich der
Leser gegenüber einem dermaßen suggestiven Werk des
selbständig denkendes Wesen zu behaupten.