Beschreibung
Gemäldegalerien sind seit dem 18. Jahrhundert nicht nur privilegierte
Räume der Bildpräsentation und Bildbetrachtung, sondern auch Orte
gelehrter Konversation und breitenwirksamer Kunstvermittlung. Die
Aneignung von Kunstwerken entsprach zu dieser Zeit nicht etwa einer reinen
Inaugenscheinnahme, sondern bedurfte offensichtlich des gedruckten
Kommentars. Sehen und Lesen, ergänzt durch leise Gespräche von Paaren oder
in Kleingruppen, erscheinen hier nicht nur aufeinander bezogen, sondern so
unauflösbar miteinander verwoben, dass damalige Galerien und
Kunstsammlungen als intermediale Räume beschrieben werden können, in denen
sich eine auf der Dialektik von Bild und Text basierende Wissenskultur
konstituierte und manifestierte.
Diese Situation führte zur Herausbildung des Rezeptionstyps des lesenden
Bildbetrachters, der mit dem Buch in der Hand die Sammlung und ihre
einzelnen Werke erschließt. Eine derartig von Wissen unterstützte und oft
vom Wissen gesteuerte Wahrnehmung der Kunstwerke entsprach nicht nur dem
Ideal des Gelehrtenmuseums, vielmehr erscheint die Herausbildung des
lesenden Bildbetrachter als “Geburt des modernen Museumsbesuchers”, der
weniger zum Vergnügen als zum Bildungserwerb vor die Kunstwerke tritt.
Sprichwörtlich drängten sich die Vermittlungstexte zwischen die Werke und
die Augen des Betrachters und leisteten eine Programmierung des Sehens
entsprechend den diskursiv abgesicherten Wissens- und Anschauungsformen
der jungen Fachwissenschaft Kunstgeschichte.
Die Rekonstruktion der Entstehungsbedingungen des lesenden Bildbetrachters
leistet gleichermaßen einen Beitrag zur Kulturgeschichte des Sehens in der
Moderne, zur Disziplingeschichte des Kunstmuseums, zur historischen
Besucherforschung und zur Vorgeschichte der Museumspädagogik.